Interview zur Bundestagswahl

Gesunde Pläne? Was die Parteien versprechen

Leere Stühle im Bundestag. Foto: Simone W. Neumann / Deutscher Bundestag
Leere Stühle im Bundestag. Foto: Simone W. Neumann / Deutscher Bundestag

27.08.2021, von Nicola Kuhrt. Aktualisiert 22.08.2022 12:46,

 

In einem Monat wird in Deutschland gewählt. In ihren Programmen beschreiben die Parteien Visionen, Schwerpunkte und Ziele. Was planen CDU, die Grünen oder die SPD für das Gesundheitssystem? Was wollen Die Linke, die FPD oder die AfD? Wir haben mit Robin Rüsenberg gesprochen: Der Politikwissenschaftler verfolgt die gesundheitspolitischen Versprechen der Politik seit vielen Jahren.

 

Laut einer Datenanalyse der aktuellen Wahlprogramme von SPIEGEL ONLINE nimmt das Thema „Gesundheit“, egal bei welcher Partei, sechs bis sieben Prozent des gesamten Wahlprogramms ein. Was aber steht drin? Hat die Corona-Pandemie die Pläne der Parteien verändert? Findet sich eine Strategie im Vorgehen gegen Medizin Fakes und Verschwörungserzählungen?

 

 

MedWatch: Herr Rüsenberg, was ist Ihnen aufgefallen in den aktuellen Wahlprogrammen in puncto Gesundheit? Was ist neu?

Robin Rüsenberg: Wahlprogramme sollen vor allem ein Signal an die Wähler geben. Gesundheitspolitisch sind sie eigentlich keine Überraschungseier. Bei den großen Linien zeigen sie programmatisch viel Kontinuität. Die Politikwissenschaft nennt dies Pfadabhängigkeit, abrupte Wechsel sind selten. Aber Wahlprogramme reagieren natürlich auf langfristige Trends und auf aktuelle Entwicklungen. Gesundheit ist bei der SPD nun sogar eine von vier „Zukunftsmissionen“.

Was mir außerdem aufgefallen ist, dazu zwei inhaltliche Beispiele: Der Öffentliche Gesundheitsdienst erfreut sich im Vergleich zu früheren Wahlprogrammen einer großen Popularität. Auch betonen fast alle im Bundestag vertretenen Parteien die Fragen der regionalen Gesundheitsversorgung jetzt stärker. Auch die SPD hat da kurz vor Toresschluss noch eine weitere Stärkung der Kommunen aufgenommen. Insbesondere die Grünen treiben das Thema. Stichwort: Was können etwa Kommunen noch stärker machen, wie kann regional mehr gesteuert, Angebote besser geplant werden, auch fachgebiets- und berufsgruppenübergreifend?

 

Robin Rüsenberg ist Politikwissenschaftler und Lehrbeauftragter an der Technischen Hochschule Braunschweig. Schon bei der letzten Bundestagswahl analysierte er die Wahlprogramme und auch das, was von diesen in den anschließenden Koalitionsverhandlungen aus diesen aufgenommen wurde – oder eben auch nicht.

 

MedWatch: Was wird in Zeiten von Corona zudem intensiver thematisiert?

Rüsenberg: Breite Diskussionen über das Gesundheitswesen hat es im laufenden Bundestagswahlkampf – genau wie vor vier Jahren – bisher nicht gegeben. Auch die Wahlumfragen zeigen, dass die Gesundheitspolitik bei den Bürgerinnen und Bürgern nicht zu den Top-Themen zählt. Somit bleibt die strukturelle Weiterentwicklung des Gesundheitswesens eher eine Spielwiese für Fachleute. Aber auch hier hat die Pandemie Trends und Herausforderungen verschärft und neu akzentuiert, in der stationären Versorgung, in der Pflege, bei der Finanzierung. Das findet ebenso in den Wahlprogrammen Ausdruck. Das Beispiel Öffentliche Gesundheitsdienst hatten wir bereits. Oder nehmen Sie die Arzneimittelpolitik: Diese wird jetzt viel stärker als in der Vergangenheit unter dem Stichpunkt Versorgungssicherheit und Sicherung der Wertschöpfungskette diskutiert. Interessant ist auch, was kaum oder wenig thematisiert wird: Die finanzielle Situation der GKV ist ab 2022 ja absehbar düster. An dieser Stelle sind die Wahlprogramme recht zurückhaltend, sieht man, dennoch ein wichtiger Punkt, von angepassten Steuerzuschüssen ab. Das bestätigt die Forschung, wonach in wohlfahrtsstaatlichen Fragen Wahlprogramme viel eher einen Aus- denn einen Abbau in Aussicht stellen.

 

MedWatch: Was wird denn angeboten, um die Situation der Menschen, die in der Pflege arbeiten, zu verbessern? Sehr viel ist etwa bei der CDU/CSU nicht dazu zu lesen.

Rüsenberg: Das Thema Pflege ist in all seinen Facetten ein echter Dauerbrenner. Dies ist also auch zu Corona-Zeiten keine völlig überraschende Entwicklung, es hat auch den Wahlkampf 2017 geprägt. In der vergangenen Legislaturperiode ist dann auch einiges passiert mit Blick auf die Frage: Was ist zu tun, um die Arbeits- und Ausbildungsbedingungen bei der Pflege zu verbessern? Herzstück war die „Konzertierte Aktion Pflege“ als gemeinsame Initiative von Gesundheits-, Familien- und Arbeitsministerium. Von der Grundidee schließen die Wahlprogramme hieran an, etwa mit 500 Euro mehr Grundgehalt bei der Linken oder Tarifverträgen bei der SPD. Auch die Union ignoriert das Thema nicht, knüpft vielmehr an die Politik von Minister Spahn an, so durch die Anwerbung ausländischer Pflegefachkräfte. In der Form neu ist aber die Unterstützung zur Einrichtung einer Bundespflegekammer. Spannend wird in der kommenden Legislaturperiode sein, wie mit den finanziellen Folgewirkungen umgegangen wird – das heißt, die künftigen Regierungsparteien müssen schnellstens darüber reden, wie die Pflege nachhaltig finanziert wird. Das ist in der vergangenen Legislaturperiode nicht abschließend passiert und das wird definitiv ein ganz großes Thema werden nach der Wahl.

 

 

MedWatch: Der Ausbau der Gesundheitskompetenz im Sinne des Patientenschutzes kommt trotz Querdenker-Debatten, Impf-Kritik und zahlreicher aktueller Verschwörungsmythen rund um Corona in keinem Wahlprogramm vor.

Rüsenberg: Das ist in der Tat wenig bis gar nicht Thema in den Wahlprogrammen, was überrascht, da Gesundheitskompetenz als politische Baustelle erkannt ist. Es gibt ein paar Vorschläge, aber dies eher implizit: Die Grünen sprechen etwa von einer Erhöhung der Patientensicherheit, die FDP bringt wiederum ein lebenslanges Gesundheitslernen auch für Erwachsene ins Spiel. Die Tatsache, dass ein Thema nicht in den Wahlprogrammen steht, muss allerdings mitnichten heißen, dass es sich in der anschließenden Legislaturperiode gar nicht auf der politischen Agenda stehen wird. Das Thema Gesundheitskompetenz ist verschiedentlich in weiteren programmatischen Verlautbarungen etwa von den Grünen, aber auch von weiteren parteipolitischen Akteuren wie der FDP oder der SPD genannt worden. Hermann Gröhe hat 2017 die „Allianz für Gesundheitskompetenz“ angestoßen. Ich denke nicht, dass das Thema in der nächsten Legislaturperiode im Nirwana verschwinden wird, im Gegenteil.

 

MedWatch: Was gibt es zu den einzelnen Parteien zu berichten?

Rüsenberg: Hier ist die Frage wichtig, ob Gesundheitspolitik als Profilierungsthema im Parteienwettbewerb genutzt wird. In den 2000er Jahren war dies noch so, vor allem bei der Finanzierung, Bürgerversicherung vs. „Kopfpauschale“. Die parteipolitischen Gegensätze auf dem, was Politikwissenschaftler die sozioökonomische Konfliktachse nennen, haben sich aber mittlerweile stark abgeschliffen oder werden nicht mehr so betont. Bei der Finanzierung halten sich CDU/CSU in 2021 erneut eher bedeckt – und sind doch detaillierter, nennen explizit einkommensabhängige paritätische Beiträge. Die Parteien des linken Parteienspektrums sind da bei ihren jeweiligen Bürgerversicherungsideen ausführlicher. Mitunter rückt der Parteienwettbewerb Themen nach vorne, die über ihre praktische Versorgungsrelevant symbolisch aufgeladen werden können, etwa der Umgang mit Cannabis in den „Jamaika“-Sondierungen 2017. Das Thema findet sich – mit unterschiedlicher Zielsetzung – auch dieses Jahr bei CDU/CSU, SPD, FDP, der Linken und den Grünen. Die Grünen behandeln die Gesundheitspolitik ohnehin seit einiger Zeit viel umfassender und sind bemüht, sich hier über ihre Kernthemen als ursprünglich kleinerer Partei – vor allem Umwelt-, Energie oder Verkehrspolitik – hinaus breiter aufzustellen. Das zeigt sich auch im Wahlprogramm. Für die AfD hingegen ist die Gesundheitspolitik kein Profilierungsthema. Sie setzen auf Themen wie den Euro und Migration, davon versprechen sie sich Wählerwirksamkeit.

 

MedWatch: Anders als etwa die Partei Die Linke

Rüsenberg: Wahlprogramme sollen auf ja dem Wählermarkt das inhaltliche, das programmatische Angebot einer Partei noch einmal prägnant widerspiegeln. Es darf aber nicht unterschätzt werden, dass politische Programme auch eine interne Funktion, eine für die jeweilige Partei rückversichernde Wirkung haben: Was sind eigentlich die Punkte, die für uns relevant sind? Für linke Parteien, das zeigt die politikwissenschaftliche Forschung, hat die Programmarbeit einen insgesamt höheren Stellenwert. Die Linke ist da ein gutes Beispiel: Sie setzt auf das Profilthema soziale Gerechtigkeit. Das Wahlprogramm 2021 will diese etwa durch die Abschöpfung von Profiten oder Leistungsausweitungen umsetzen. Die Partei wird wohl nicht an der Bundesregierung beteiligt sein. Das heißt, Die Linke ist eher nicht darauf ausgerichtet, ihre Vorschläge auch in der Regierungsverantwortung umsetzen zu müssen, hier gibt es ja auch parteiinternen Streit, anders als in Teilen auf regionaler, auf Landesebene, wo es ja mehrere Regierungsbeteiligungen gibt. Demgegenüber kann man dann das Wahlprogramm der Unionsparteien halten – auf Bundesebene quasi ja schon Regierungsparteien per Abonnement. So wird etwa der CDU nachgesagt, Programmpapiere nicht überzubewerten und mögliche Koalitionsverhandlungen mitzudenken. Allerdings ist dieses Jahr auch die Union gesundheitspolitisch umfangreicher im Wahlprogramm, viele Punkte davon mit Corona-Bezug.

 

MedWatch: Sie haben frühere Koalitionsverträge analysiert: Wie viel von den Dingen, die da angekündigt wurden, sind dann auch umgesetzt worden?

Rüsenberg: Grob gesagt, eine ganze Menge. Wenn man auf die Koalitionsverträge 2013 oder 2018 schaut, zeigt sich, dass der jeweilige Minister, also zunächst Hermann Gröhe (CDU) und dann Jens Spahn (CDU), sich im Anschluss relativ genau an den Koalitionsvertrag gehalten und diesen entsprechend umgesetzt hat. Die Bertelsmann Stiftung hat Zahlen dazu vor zwei Jahren für die laufende Legislaturperiode erhoben. Demnach gab es im Politikfeld Gesundheit eine Nichterfüllungsquote von 28 Prozent. Allerdings muss man dabei einen wichtigen Aspekt beachten: Die inhaltliche Agenda eines Koalitionsvertrages – gleiches gilt für Wahlprogramme – kann die Nennung vergleichsweise allgemeiner Ziele, etwa bessere Arbeitsbedingungen für Pflegekräfte, sein oder aber sie beschreibt schon konkret das dafür gewünschte Instrumentarium, zum Beispiel die eben genannten Tarifverträge, möglicherweise mit Umsetzungsfristen. Ist ein Koalitionsvertrag aber nicht immer bis zu Ende ausbuchstabiert, ergeben sich im gesundheitspolitischem Alltagsgeschäft nicht wenige Handlungsspielräume für die oder den Ministerin bzw. Minister. Hermann Gröhe und Jens Spahn haben dies durchaus für die eigene politische Agenda genutzt.

 

MedWatch: Ihre Prognose für die Koalitionsverhandlungen 2021?

Rüsenberg: Die Regierungsbildung 2017/2018 war bereits lang. 2021 könnte es ebenfalls nicht einfach werden, da absehbar eine Partei – die Grünen bei „Jamaika“, die FDP bei der „Ampel“, vielleicht sogar die SPD bei der „Deutschland“-Koalition oder die Union bei „Kenia“ – den Sprung über den sog. Lagergraben wagen, also mit Partnern aus der anderen Seite des Parteienspektrums zusammenarbeiten muss. Das hat erfahrungsgemäß längere Verhandlungen und einen detaillierten Koalitionsvertrag zur Folge. Ich gehe aber nicht davon aus, dass eine Zusammenarbeit an der Gesundheitspolitik scheitern würde. Auch die parteipolitisch umstrittene Bürgerversicherung hält einige, sagen wir, Zwischenschritte bereit, die Kompromisse möglich machen. Und dann gibt es ja ohnehin einen Faktor der bestimmend sein wird für die Gesundheitspolitik nach der Bundestagswahl, und zwar egal in welcher parteipolitischen Konstellation: Wir werden erstmalig seit der Wahl 2009 wieder in eine Situation kommen, wo sich die Kassenlage, also die finanzielle Situation der Gesetzlichen Krankenkassen, doch düster darstellt. Die GKV spricht von einer Lücke von möglicherweise bis zu 18 Milliarden Euro im Jahr 2022. An dieser Konstellation kommt keine Regierungskoalition vorbei. In solch prekären Lagen gilt oftmals, dass Not kein (programmatisches) Gebot kennt. Näheres wissen wir vielleicht sogar schon vor der Wahl am 26. September. Der Bundestag könnte nämlich am 7. September noch einen weiteren Bundeszuschuss für 2022 beschließen. Also nicht unwichtig für die Frage, wie viel Druck im Kessel nach der Wahl ist.