21.04.2021 Das Hormonpräparat Duogynon wurde in den 1960er- und 1970er als Schwangerschaftstest genutzt. Es steht seit Jahrzehnten in Verdacht, Fehlbildungen ausgelöst zu haben. Dokumente zeigen, dass Mitarbeiter des damaligen Gesundheitsamts versuchten, dies zu vertuschen. Die Petition einer Betroffenen wartet seit vier Jahren auf ihre Bearbeitung.
»20.02.1973
Heute war der schrecklichste Tag meines LebensM. wäre beinahe so kurz vor der Operation gestorben. Am Nachmittag bei der letzten Besprechung in der Mayo-Klinik hat er plötzlich einen Herzanfall bekommen. Er hat den Kopf zurückgeworfen, die Augen verdreht, furchtbar geatmet und geschrien und ist dunkelblau angelaufen. Ich dachte, ich werde verrückt, und ich weiß nicht, wie ich diese Minuten überstanden habe. Er wurde sofort unter Sauerstoff gelegt und ins Hospital gebracht. Daraufhin wurde es langsam wieder besser.«
(Else Meixner, Tagebucheintrag)
Else Meixner fand die Notizen vor einiger Zeit in einem alten Tagebuch. Schmerzhafte Erinnerungen einer Mutter, die als junge Frau zwei Tabletten des Mittels Duogynon eingenommen hatte. Sie wollte wissen, ob sie schwanger war. Das Hormonpräparat Duogynon war damals als Schwangerschaftstest zugelassen. Meixner freute sich: Das Ergebnis war positiv, im Februar 1971 brachte sie ihren Sohn auf die Welt. Doch der Junge war nicht gesund. Er hatte mehrere Herzfehler. Unzählige Operationen, auch in einer Spezialklinik in den USA, folgten. Heute lebt er in einem speziellen Wohnheim.
Dass die Tabletten der Auslöser für die Missbildungen sein könnten, verstand Else Meixner erst einige Jahre später. Mehrere Hundert Fälle von Kindern, die mit Missbildungen auf die Welt gekommen waren, wurden nach und nach bekannt: in Deutschland, aber auch in anderen Ländern. In Großbritannien etwa war das Mittel unter dem Namen „Primodos“ auf dem Markt. Das pharmakritische Magazin „arznei-telegramm“ warnte schon 1971 vor dem Mittel, das Magazin stern berichtete 1978 unter dem Titel „Tausend Kinder klagen an“ über Duogynon und die Schädigungen. In den 1970er Jahren wurde das Mittel in vielen Ländern vom Markt genommen, in Deutschland erst 1981.
Erste Hinweise, dass Duogynon schwere Missbildungen wie Fehlbildungen der Blase, Schädigungen des zentralen Nervensystems und Herzfehlern führen könnte, gab es bereits 1967. Die britische Kinderärztin Isabel Gal berichtete im Fachmagazin „Nature“ („Hormonal pregnancy tests and congenital malformation“, Nature 216, 1967) erstmals darüber. Der Duogynon-Hersteller Schering, der später vom Pharmakonzern Bayer übernommen wurde, hatte 1969 selbst Tierversuche durchgeführt. Bei einigen Dosierungen gab es Missbildungen, Föten starben ab. Die Auffälligkeiten wurden offenbar weggeschoben. Die Versuchsgruppe sei zu klein gewesen, hieß es später. Doch interne Dokumente belegen, dass Mitarbeiter von Schering versuchten, die belastenden Daten nicht an die Öffentlichkeit dringen zu lassen.
»21.02.1973 – Der OP-Tag ihres Sohnes
Habe nicht geschlafen, obwohl ich weiß, dass es nur besser werden kann. Ich danke Gott, dass der so sehr herbeigesehnte Operationstag endlich da ist. (…)«
Vergeblich klagten erstmals in den 1980er Jahren Betroffene auf Schadenersatz. Ein kausaler Zusammenhang zwischen der Einnahme von Duogynon und einer Missbildung sei nicht belegt, hieß es seitens des Herstellers Schering und so auch bei Bayer. Die Ansprüche seien zudem verjährt. Ob die Duogynon-Wirkstoffe für die Fehlbildungen verantwortlich sind, wird auf wissenschaftlicher Ebene bis heute kontrovers diskutiert.
André Sommer (45 Jahre) ist Gründer einer deutschen Duogynon-Interessengruppe. Der Lehrer aus dem Allgäu kam mit einer schweren Fehbildung auf die Welt. „Die Blase, die ja innerhalb des Körpers liegt, die war außerhalb. Und das musste dann 15-mal operiert werden. Ich hab praktisch ständig einen Beutel am Körper, wo der Urin reinfließt. Das begleitet mich ein Leben lang.“ Sommer will wissen, warum ihm dies passiert ist, was Schering von der möglicherweise schadhaften Wirkung des Hormonpräparats wusste und warum das Unternehmen das Medikament nicht rechtzeitig vom Markt nahm, erklärt er gegenüber MedWatch. Zudem kämpfe er für eine Anerkennung der Schäden und eine soziale Absicherung der Betroffenen.
Vor acht Jahren entdeckten Sommer und sein Anwalt im Berliner Landesarchiv die Akten eines 1980 eingestellten Strafverfahrens gegen Schering. Sie arbeiteten sich durch mehr als 7000 Seiten; darunter auch Unterlagen des Pharmaherstellers, welche Anwälte anderer Betroffener bisher nicht einsehen konnten. Aus den Dokumenten geht hervor, dass Schering offenbar Hilfe von staatlicher Seite bekam: Ein Professor des damaligen Bundesgesundheitsamts versorgte Schering-Mitarbeiter mit Informationen zu internen Einschätzungen des Amtes. Er bezeichnete sich in einem Schriftwechsel als „Advokat der Firma Schering“. Im November 2018 konfrontierten die Abgeordneten Stephan Pilsinger (CSU), Martina Stamm-Fibich (SPD) und Maria Klein-Schmeink (Die Grünen) die Bundesregierung mit Fakten, die sich aus den lange nicht zugänglichen Akten des Landesarchivs Berlin ergeben hatten. Doch die Regierung sah „keine Veranlassung, weitere aufwendige Untersuchungen alter Aktenbestände durchzuführen“, kritisierte damals Klein-Schmeink.
Mehrere Politiker schlossen sich zusammen – und schrieben im Mai 2019 einen Eilbrief an Angela Merkel. Auf vier Seiten formulierten darin Abgeordnete von CDU, CSU, SPD, FPD, Grüne und Die Linke ein gemeinsames Anliegen: Sie baten die Bundeskanzlerin, sich für die umfassende Aufarbeitung des Falls „Duogynon“ in Deutschland einzusetzen. Die Zahl der Betroffenen, die heute noch in Deutschland leben, wird auf 400 bis 600 Menschen geschätzt. Eine Frage ist auch, ob deren Entschädigung zwangsläufig an den Nachweis einer wissenschaftlichen Kausalität geknüpft sein muss.
„Duogynon steht im Verdacht, bei der Einnahme in der Frühschwangerschaft schwere embryonale Missbildungen verursacht zu haben“, schreiben die Politiker. Es gäbe eine deutliche Ähnlichkeit zum Fall „Contergan/Thalidomid.“ Der große Unterschied sei, dass der Fall „Duogynon“ bis heute nicht aufgearbeitet ist.
Es gebe viele offene Fragen und diverse Belege für ein Fehlverhalten nicht nur des Herstellers, sondern auch von Mitarbeitern des damals zuständigen Bundesgesundheitsamtes (BGA). „Insbesondere geht es hier um die Verletzung ihrer Neutralitätspflicht. Schering-Unterlagen im Bestand des Landesarchivs Berlin legen nahe, dass auf ernstzunehmende Hinweise auf ein bestehendes Missbildungsrisiko weder vom Hersteller noch von Behördenseite angemessen reagiert wurde.“ Im Gegenteil: Es gebe deutliche Hinweise auf eine verdeckte Kooperation des Herstellers und des BGA mit dem erklärten Ziel, eine Marktrücknahme von Duogynon zu verhindern oder zu verschleppen.
Duognon wurde als Schwangerschaftstest verschrieben. War die Frau nach Einnahme der zwei Pillen nicht schwanger, setzte die Blutung wenige Tage nach der Einnahme ein.
„Die Aktivität der Politiker gab mir Hoffnung“, sagt Else Meixner. Würde endlich etwas für sie und andere betroffene Familien getan werden? Unter der Nummer 70948 hatte sie 2017 eine Petition an den Deutschen Bundestag geschrieben. Darin skizziert sie die Ereignisse und endet mit:
»Ich fordere daher die Einrichtung eines Hilfsfonds zur finanziellen Entschädigung der Betroffenen für ihr jahrzehntelanges Leiden und eine lebenslange Versorgung. Auch die Hinterbliebenen der verstorbenen Geschädigten sollten finanziell berücksichtigt werden. Es geht um die Anerkennung des erlebten Leides und zumindest um den Versuch eines Ausgleichs des erlittenen Unrechts. Ebenso wie bei den Contergan-Opfern müssen auch die Duogynon-Opfer in ausreichendem Maße entschädigt werden.«
Mitte 2020 gab es einen neuerlichen Hoffnungsfunken für Meixner und Sommer: In Großbritannien hatte eine Gruppe Betroffener nach langem Protest erreicht, dass ein Untersuchungsausschuss zu Primodos eingerichtet wurde. Der Abschlussbericht des Ausschusses wurde im Juli 2020 veröffentlicht. Das Fazit des Papiers, das mit „First do no harm“ überschrieben ist: Obwohl ein ursächlicher Zusammenhang zwischen dem Hormonpräparat und den Fehlbildungen nicht zweifelsfrei erwiesen sei, hätten die Hinweise auf mögliche Risiken bereits 1967 ausgereicht, um den Einsatz als Schwangerschaftstest zu untersagen – zumal es zu diesem Zeitpunkt bereits die Möglichkeit gab, Schwangerschaftstests mit Blut oder Urin durchzuführen.
Der Bericht weist außerdem darauf hin, dass die zuständige Behörde erst sehr spät Ärztinnen und Ärzte explizit über Hinweise auf mögliche Fehlbildungen informiert hat. Als problematisch werden auch das Vorgehen späterer Untersuchungskommissionen und Interessenkonflikte von beteiligten Experten eingestuft.
Die englische Regierung hat sich aufgrund des Berichtes bei den Betroffenen entschuldigt, die Einrichtung eines Entschädigungsfonds wird erwogen.
»Wir haben M. gesehen!!! Er ist rosig (…) und seine blonden Locken kommen viel mehr zur Geltung. Seine Hände und Füße sind festgebunden. Im Mund steckt eine Tube und sein ganzes Gesicht ist verklebt. Schläuche vor Nase, Bauch, Arm und Leiste.
Als er mich sieht, weint er. Aber es kommt aus seinem Mund kein Ton. Er will seine Hände bewegen; es ist eine große Qual. Aber ich weiß, das geht vorbei. Und was ist das schon gegen das Wunderbare, das bei der Operation herausgekommen ist. Als ich aus dem Spital kurz raus bin, habe ich das erste Mal die Vögel gehört und die Sonne gespürt – es ist der glücklichste Tag meines Lebens.«
Nach zahlreichen Rückfragen der eilbriefschreibenden Politiker heißt es am 10. September 2020 in Berlin: Gesundheitsminister Jens Spahn (CDU) will ein Forschungsprojekt starten, im Mittelpunkt der Studie soll die Rolle deutscher Behörden bei der Registrierung und laufenden Überwachung von Duogynon stehen. Untersucht werden soll vor allem, ob Verbindungen zwischen der damaligen Aufsichtsbehörde BGA und dem Hersteller Schering dazu geführt haben, dass Duogynon trotz Hinweisen auf mögliche Risiken nicht vom Markt genommen wurde.
Seither ist nicht mehr viel passiert. Anfragen seitens der SPD und und den Grünen ergaben, dass die Studie ausgeschrieben wurde – allerdings nicht öffentlich. Das „Warum?“ blieb trotz mehrfacher Nachfragen unbeantwortet. Nun haben die Grünen eine neuerliche Kleine Anfrage (19/28279) auf den Weg gebracht. Die Abgeordneten erkundigen sich darin nach dem „Stand der Aufklärung zur Rolle deutscher Behörden hinsichtlich der Registrierung und Pharmakovigilanz* von Duogynon“. (* Arzneimittelsicherheit)
Und auch Else Meixner hofft immer noch, dass sie mit ihrer Petition Erfolg hat. Die SPD unterstützt das Anliegen. „Wir wollen die Aufarbeitung eines möglichen Fehlverhaltens der Aufsichtsbehörden voranbringen“, sagt Bundestagsabgeordnete Martina Stamm-Fibich. Sie ist für ihre Partei im Petitionsausschuss und dessen stellvertretende Vorsitzende. Falls staatliches Versagen festgestellt werden sollte, könnte die Einrichtung eines Entschädigungsfonds für Betroffene wieder näher rücken. Das höchste Votum des Petitionsausschusses werde dabei für die Petition angestrebt: der Hinweis „Berücksichtigung“. Damit ist die Bundesregierung verpflichtet, innerhalb von sechs Wochen zur Vorlage Stellung zu beziehen.
Doch soweit ist es noch gar nicht gekommen.
Wie MedWatch-Recherchen ergaben, ist der weitere Verlauf der Petition derzeit gestoppt. Im August 2019 meldete sich Marc Henrichmann (CDU), Berichterstatter für seine Partei im Petitionsausschuss. Er möchte zunächst noch ein sogenanntes Berichterstattergespräch zur Petition Else Meixners führen. Bevor dieses Gespräch stattgefunden hat, kann der Ausschuss nicht weiter über den Umgang mit der Petition entscheiden. Doch auch knapp eineinhalb Jahre, nach dem Henrichmann Gesprächsbedarf angemeldet hat, gibt es noch nicht einmal einen Terminvorschlag. Daran gibt es Kritik.
„Wir haben uns interfraktionell eingehend mit der Petition und dem ,Fall Duogynon‘ befasst. Es gibt viele ungeklärte Fragen und deutliche Hinweise, dass einerseits der Hersteller von der fruchtschädigenden Wirkung wusste, aber auch dass das zuständige Bundesgesundheitsamt seiner Verantwortung nicht ausreichend nachkam“, erklärt die Grünen-Abgeordnete Corinna Rüffer. Deshalb brauche man dringend eine umfassende Aufarbeitung, insbesondere auch was die Rolle deutscher Behörden bei der Registrierung und Überwachung von Duogynon betrifft.
„Sich dafür stark zu machen, sollte eine Selbstverständlichkeit sein und ist das mindeste, was wir den Betroffenen schulden“, erklärt Rüffer, die ebenfalls Berichterstatterin für den Petitionsausschuss ist. Leider verzögere der zuständige Berichterstatter der CDU seit bald zwei Jahren ein entsprechendes Votum des Petitionsausschusses. „Das ist für mich absolut unverständlich – und es ist in meinen Augen eine Missachtung der Petentin und der vielen anderen betroffenen Familien.“
Der CDU-Abgeordnete Henrichmann lässt auf die Anfrage von MedWatch, welche Fragen denn noch zu klären seien und warum es dafür noch immer keinen Termin gebe, antworten: „Da Petitionsverfahren nicht öffentlich geführt werden, darf ich zu der von Ihnen genannten Petition keine Aussage machen. Dafür bitte ich um Ihr Verständnis. Die von Ihnen gemachten Angaben kann ich aus dem genannten Grund ebenfalls nicht bestätigen.“