Leiden schafft Recherche – auch im Wissenschaftsjournalismus…

15.05.2017 Wissenschaftsjournalismus ist (endlich!) wieder ein Schwerpunkt auf der Jahreskonferenz von Netzwerk Recherche. Das diesjährige Treffen unter dem Motto „Leiden schafft Recherche“ findet am 9. und 10. Juni in Hamburg statt, bitte Programm gucken und anmelden!

 

Damit ihr alle Wissenschaftsjournalismus-Sessions im Überblick habt, anbei eine kurze Zusammenstellung: Der Samstag bietet insgesamt sechsmal Gelegenheit, in Sachen Wj Neues zu erfahren, zu debattieren und sich mit Kollegen zu vernetzen – und einen Preis gibt es auch. 🙂

 

Los geht es am 10. Juni mit  der Session Euros für Ärzte – Die Learnings aus einem unbequemen Projekt (10:45 – 11:45h). Hier darf ich die Macher von correctiv und Spiegel online befragen: Was passiert, wenn man auf einen Schlag die Zusatzhonorare von rund 70.000 Ärzten, Apothekern und Heilberuflern veröffentlicht? Was ist bei der Sammlung und Analyse solcher Daten zu beachten? Wie haben die betroffenen Gruppen reagiert? Und wie können sich Journalisten juristisch zur Wehr setzen, wenn Anwälte in der Kontroverse ein Geschäftsmodell wittern? Mit dabei: Christina Elmer (Datenjournalismus-Teamleiterin Spiegel online), Markus Grill (Chefredakteur correctiv), Patrick Stotz (Datenjournalist Spiegel online) und Stefan Wehrmeyer (Datenjournalist correctiv).

 

Parallel gibt es Samstagvormittag um 10.45h noch eine zweite Session: Journalist plus Wissenschaftler: Dreamteam für post fact checking (10:45 – 11:45h): Professor Holger Wormer von der TU Dortmund spricht mit Experten über die Zukunft des Faktenchecks:

Eigentlich schon immer fester Bestandteil des Qualitätsjournalismus, gewinnt dieser durch die digitale Verbreitung gezielter Falschinformationen eine ganz neue Bedeutung. Konventionelle Faktenchecks geraten dabei jedoch schon auf Grund der bloßen Masse an kursierenden Informationen (etwa via Social Media) schnell an ihre Grenzen. Wissenschaftler können hier helfen, indem sie neue Tools zur (teil-)automatischen Überprüfung von Nachrichten in Bild, Text und Ton liefern. Journalisten können aber auch von ganz alltäglichen Strategien profitieren, mit der man in der wissenschaftlichen Forschung versucht, der Wahrheit näher zu kommen. Die Session möchte Wissenschaftler und Journalisten im Kampf gegen Fake News zusammenbringen.

 

Am frühen Nachmittag geht es um ein umstrittenes zukünftiges Verfahren bei Klinischen Studien, Stichwort „Adaptive Pathways” (AP): Arzneimittelzulassungen: Patienten (wieder) in Gefahr? (14 – 15h).

Die Europäische Arzneimittelbehörde erklärt zu ihrem Vorstoß, Patienten früher Zugang zu Arzneimitteln zu gewähren – auch wenn diese noch nicht vollständig geprüft sind:

»Das Konzept der Adaptive Pathways ist nicht für alle Arzneimittel anwendbar, aber für die, die auf einen ungedeckten medizinischen Bedarf abzielen und für die  die Kriterien der Adaptive Pathways gelten.« (Final report, EMA)

Jörg Schaaber von der BUKO Pharmainitiative sieht in Adaptive Pathways einen Großversuch mit der Bevölkerung – unter Rückendeckung der Krankenkassen: 

Die Grundannahme von AP lautet, dass es „vielversprechende“ Wirkstoffe gibt, die zu spät bei den PatientInnen ankommen. Es soll deshalb möglich werden, Mittel bereits auf den Markt zu bringen, wenn nur Phase II Studien durchgeführt wurden. Doch nur die Hälfte aller Medikamente, die nach Phase II erfolgversprechend erscheinen, schaffen es auch durch die derzeit für die Zulassung notwendigen Phase III-Studien. Mit anderen Worten: Es steht 50:50, dass solche Mittel gefährlich, unwirksam oder beides sind. Auch wenn die Erfinder von AP nicht müde werden zu betonen, dass es nicht um die Absenkung von Sicherheitsstandards geht, ist offensichtlich das Gegenteil der Fall.

 

Ich befrage Siegfried Throm vom Verband forschender Arzneimittelhersteller (vfa), weshalb er an der umstrittenen  Strategie von “Adaptive Pathways” festhält: Erfolgt die Zulassung von Arzneimitteln heutzutage auf dem Level, den wir uns wünschen? Sind die Vorschläge der Europäischen Zulassungsbehörde EMA, Medikamente bereits sehr viel früher auf den Markt zu bringen, nicht eine zu große Gefahr für die Patienten?

 

Außerdem in der Session dabei: Gerd Antes, Direktor des Cochrane Zentrums Deutschland und Jörg Hasford, Vorsitzender, Arbeitskreis Medizinischer Ethikkommissionen in der Bundesrepublik Deutschland e.V. Diese werden sich, sollte Adaptive Pathways wirklich Zulassungspraxis werden, mit ganz neuen ethischen Fragen auseinander setzen: Wie viel Risiko für den einzelnen Patienten in noch erlaubt?

 

Außerdem am Samstagnachmittag: Medizin und Wissenschaft: Faktenfreier Lokaljournalismus? Der Medien-Doktor bittet zur Sprechstunde: Seit vielen Jahren bewerten Journalisten beim Medien-Doktor an der TU Dortmund die Berichterstattung über Medizin- und Umweltthemen. Die Auswertung von weit über 400 Beiträgen aus Print-, TV-, Hörfunk- und Online-Medien zeigt nun: Lokal und Regionalmedien schneiden in der Medizinberichterstattung im Vergleich zu überregionalen Medien oft erheblich schlechter ab. Anstatt kritisch zu berichten, findet sich häufig eine „Hofberichterstattung“ über Kliniken und Gesundheitszentren der Region, in denen neueste Innovationen angepriesen werden. Pressemitteilungen finden mitunter ebenso den direkten Weg in journalistische Beiträge wie Berichte über vermeintliche Wunderheiler.

 

Der Workshop möchte zunächst die Ursachen für diese Qualitätsmängel beleuchten: Gibt es überhaupt ein Bewusstsein dafür oder sind es eher die Rahmenbedingungen in den Redaktionen? Kollegen aus Regionalmedien stellen in persönlichen Berichten die Arbeitsbedingungen dar, unter denen dort Medizin- und Wissenschaftsjournalismus entsteht. Im zweiten Teil werden Strategien aufgezeigt, wie auch nicht-spezialisierte Journalisten mit wenig Mitteln einen besseren und kritischeren Medizin- und Wissenschaftsjournalismus betreiben können.

 

Später am Nachmittag heißt es dann „Deutschland, einig Globuliland?” (15.15 bis 16.15h) – meine großartige Kollegin Claudia Ruby trifft auf Homöopathie-Unterstützer und -Kritiker. Die Session dreht sich um die Frage, warum der Gesetzgeber sehr viel Alternatives toleriert im Gesundheitssystem, obwohl doch Globuli und Co. bis heute den Beweis ihrer Wirksamkeit vermissen lassen. Annette Widmann‐Mauz, immerhin Staatssekretärin des Bundesgesundheitsministerium (CDU), ist jedenfalls ganz offiziell Schirmherrin des homöopathischen Weltkongresses 2017 in Leipzig. Sie sagt: Die Übernahme der Schirmherrschaft diene dem Dialog. Nicht nur Wissenschaftsjournalisten sind erstaunt: Darf die das? Warum verhält sich die Politik in Deutschland derart liberal, wenn es um Homöopathie geht – statt evidenzbasierte Leistungen zu stärken?

 

Den Abschluss des Tages bietet die Session: Die Lüge aus der Packungsbeilage: Pikante Recherchen über die Billigproduktion von Medikamenten in Asien und die tödlichen Folgen (16.30 – 17.30h): Viele Medikamente – so etwa fast alle Antibiotika – sind Billigprodukte. Die Pharma-Industrie hat die Produktion zu einem großen Teil nach Asien ausgelagert, um Kosten zu sparen. Woher die Mittel genau stammen, versucht sie jedoch zu verschleiern. Die Packungsbeilage gibt keine Auskunft darüber – genauso wenig wie die Firmen oder die Behörden. Dabei hat die Billigproduktion enorme Nebenwirkungen: In Indien gelangen große Mengen von Antibiotika und andere Mitteln in die Umwelt. So entstehen extrem resistente Keime und breiten sich global aus.

 

Die Autoren dokumentieren ihre mühsamen Recherchen: wie sie versucht haben, die intransparente, globalisierte Arzneimittel-Welt zu verstehen und wie sie sich gemeinsam mit Wissenschaftler auf die Suche nach den Folgen gemacht haben. Recherchen, die aktuell großes Aufsehen erregen.